Atmen für Anfänger – oder: Der nächste Hype kommt bestimmt!

Neulich, ausnahmsweise, im Bus: Neben mir zwei Teenager im angeregten Gespräch. Sie: „Ich war gestern beim "Atem-Workshop.“ Er: „Krass. Ich auch. Welche Session?“ Sie: „Psychedelic. 60 Minuten. Ohne Substanz. Nur Atmen.“ Er: „Geil. Ich hab so losgelassen – ich war ganz bei mir!“ Ich, zu mir selbst: "Ich war ganz woanders." Und ich frage mich seitdem: Echt jetzt? Müssen wir uns das Atmen beibringen lassen? Willkommen im Jahr 2025! Die Welt ist kompliziert. Verständlich. Aber wenn man uns jetzt schon das Atmen erklärt, und das mit Musik, LED-Stimmungslampe und Anmeldeformular, dann sind wir endgültig im Zeitalter der Selbstoptimierung durch Schnappatmung angekommen. Die Menschheit hat es doch bisher erstaunlich gut hinbekommen: Atmen: gratis, spontan, rhythmisch. Mal flach, mal tief, mal angestrengt, mal wohlig. Und immer zur richtigen Zeit. Vollautomatisch. Brauchen wir da wirklich geführte Online-Sessions mit Event-Countdown? Was steckt dahinter? Psychologisch betrachtet ist es natürlich nachvollziehbar. Wir suchen Halt. Orientierung. Ruhe. Und statt einfach mal fünf Minuten die Augen zu schließen und durchzuatmen, brauchen wir heute einen Kurs, eine Marke, ein Logo und einen Coach. Es ist das gute alte Bedürfnis nach Anleitung, auch für das, was unser Körper längst von jeher allein kann. Die Tipps der (leicht schnaufenden) Konfliktbaustelle: Atme. Einfach so. Gratis. Ohne Mikrofon, ohne Zoomlink. Vertraue Deinem Körper. Der hat das mit dem Sauerstoff schon immer ganz gut gemacht. Wenn es wirklich nicht reicht: Frag Oma. Die hat früher auch tief durchgeatmet, beim Fensterputzen. Oder geh zum Arzt. Das Gute daran: Die Menschen haben ein Gesprächsthema. Sie kommunizieren, tauschen sich aus. Sind authentisch. Das ist super! Natürlich darf man "Atem-Workshops" gut finden. Es mag wirken. Vielleicht auch heilen. Aber man darf sich auch fragen, ob wir uns als moderne Gesellschaft gerade dabei ertappen, das Allerselbstverständlichste zu vermarkten. Atmen. Dafür gibt’s jetzt Tickets. Vielleicht bald auch Abo-Modelle. Bis dahin: Einfach mal Mund zu, Nase auf. Und: ein, und aus. Wiederhole das! Euer Team von der Konfliktbaustelle

Beliebte Posts aus diesem Blog

Winken ohne Grund? Kommunikation unter Fremden

21. Juni – Der längste Tag des Jahres: 17 Sonnenstunden Kommunikation

600 Telefonmediationen in weniger als einem Jahr – Routine, Raketenstart oder kommunikative Erschöpfung?