6:4 gegen die Liebe – wenn Checklisten Beziehungen zerstören
In der letzten Mediation beklagte sich die Ehefrau darüber, ihr Mann erfülle ja schon länger nicht mehr die "Kriterien" und Anzeichen für wahre Liebe. Sie könne so nicht mehr in ihrer Ehe weiterleben. Zur Erklärung verwies sie auf unsere verblüffte Frage auf You-Tube, dort habe sie das "getestet".
Wir alle kennen diese Videos auf YouTube: „10 Zeichen für die wahre Liebe“, „7 Möglichkeiten, Narzissten zu entlarven“. Coaches und Berater und selbsternannte Experten erklären dort, wie man Beziehungen besser versteht, oder glaubt, verstehen zu können.
Doch was passiert, wenn jemand die „10 Zeichen der wahren Liebe“ tatsächlich wie eine Checkliste anwendet?
Er prüft Punkt für Punkt, hakt ab, und kommt am Ende zu dem Ergebnis: 4 erfüllt, 6 nicht erfüllt. Also: 6 zu 4 gegen die wahre Liebe mit meinem Partner.
Und genau hier schlägt das sog. Thomas-Theorem zu.
„Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Folgen real.“ (William I. Thomas, 1928)
Es ist dabei völlig egal, ob eine Situation objektiv stimmt oder nicht, entscheidend ist, wie die Beteiligten sie wahrnehmen und interpretieren. Denn aus dieser subjektiven Wahrnehmung entstehen reale Handlungen und Konsequenzen.
Das bedeutet: Auch wenn objektiv gar nichts „gegen“ die Liebe spricht, weil der Anwender die Kriterien falsch interpretiert oder diese gar nicht stimmen, sobald jemand die Situation für sich so interpretiert, wird er sich danach verhalten. Er kühlt ab, zieht sich zurück, orientiert sich vielleicht sogar um. Die Folge: Die Beziehung leidet, manchmal zerbricht sie. Eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Deshalb Vorsicht: Liebe und Partnerschaft sind kein Multiple-Choice-Test. Wer zu sehr auf Checklisten und äußere Kriterien vertraut, übersieht leicht die wichtigste Ressource: Gespräch und Austausch.
Anstatt abzuhaken, ob mein Partner das „richtige“ Verhalten zeigt, könnte ich offen ansprechen, was mir fehlt.
Anstatt stumm innerlich Bilanz zu ziehen, könnte ich fragen: „Wie empfindest du das eigentlich?“
Das Thomas-Theorem zeigt uns: Unsere Deutung ist mächtig. Sie beeinflusst, wie wir uns verhalten – und damit, wie die Wirklichkeit wird.
Vielleicht sollten wir uns bei den nächsten „10 Zeichen für …“-Videos fragen:
Geht es wirklich um objektive Wahrheiten? Oder schaffe ich mir durch meine Interpretation gerade selbst eine Realität, die vielleicht gar nicht sein müsste?
Und fängt das Dilemma nicht vielleicht schon dann an, wenn ich überhaupt auf die Idee kommen, meine Partnerschaft in einem solchen Test auf den Prüfstand zu stellen?
Und mal ehrlich: Vielleicht sind die „10 Zeichen für wahre Liebe“ am Ende gar nicht so kompliziert, sondern nur ein gutes Gespräch zu zweit, ein Glas Wein und die Bereitschaft, einander wirklich zuzuhören. Das war jedenfalls unser Ratschlag an das Paar. In 14 Tagen erfahren wir, ob er erfolgreich war. Und ja, wir haben die Genehmigung des Paares, das hier in dieser anonymisierten Form zu posten. MD