Komplimente haben ein Verfalldatum, Beleidigungen eher nicht
Ein Treffen mit Freunden steht auf meinem gut gefüllten Terminplan. „Abendessen“ ist da rot markiert. Was hat mich nur veranlasst, alle Freunde zu mir nach Hause einzuladen? Zum Glück bringt jeder der Gäste etwas mit. Für mich bedeutet das: Die alleinige Küchenschlacht fällt heute aus. Durchatmen!
Ich komme etwas früher nach Hause und beginne, den Tisch hübsch zu dekorieren. Passende Servietten, es wird ein mediterraner Abend. Das „i-Tüpfelchen“ fehlt noch. Ein Blick in den Garten, die Schere in der Hand – und schon schneide ich Kräuter und ein paar Blumen. Es entsteht ein Ensemble, nicht aufdringlich, aber liebevoll, auf dem bereits gedeckten Tisch. Ich bin zufrieden mit meinem Arrangement. Es bereitet mir Freude, etwas Einladendes, Behagliches zu gestalten.
Die Gäste treffen ein. Das erste „Wow“ beim Anblick des Tisches lässt nicht lange auf sich warten. Lob über die Dekoration, die erste Flasche Wein wird geöffnet, ich seufze zufrieden. Balsam für die Seele.
Dann kommt Uwe. Selbstbewusst stellt er seinen mitgebrachten Salat auf den Tisch. Und innerlich denke ich: Ausgerechnet Uwe. War er es nicht, der beim letzten Treffen bemerkte: „Also, dein Salat … nicht schlecht, aber irgendwas fehlt!“? Alle lachten, der Salat wurde restlos verspeist, und doch: Dieses eine Wort hat sich eingebrannt.
Nicht das Lachen der Freunde, nicht die ausgelassene Stimmung, nicht die schöne Umgebung sind mir als Erstes im Gedächtnis geblieben. Sondern: der kritische Kommentar zu meinem Salat.
Warum ist das so? In der Zwischenzeit weiß ich das: Negativität wirkt stärker als Positives.
Psychologen nennen das den "Negativity Bias": Unser Gehirn speichert negative Erlebnisse intensiver und länger als positive. Evolutionär war das wohl überlebenswichtig, Gefahren mussten wir uns merken, Komplimente nicht unbedingt. Studien zeigen, dass wir ein kritisches Wort über Jahre im Kopf behalten, während Lob oft schon nach Tagen verblasst.
Heutzutage ist das eher blöd: Wie können wir gegensteuern? Zum Glück lässt sich das trainieren.
Wir sollten uns Mühe geben, bewusst positive Erinnerungen abrufen: „Weißt du noch, wie wir damals von der Bierbank gefallen sind und Tränen gelacht haben?“
Wir sollten kleine Erinnerungsanker schaffen: ein Foto, ein handgeschriebener Zettel, ein buntes Herbstblatt, eine Kastanie als Glücksbringer.
Wir sollten positive Kleinigkeiten täglich speichern, nicht nur große Erfolge.
So verschiebt sich der Fokus: Weg von der einen Kränkung, hin zu einem Schatz an schönen Momenten.
Heute lehne ich mich zurück, genieße Wein und Gespräche. Uwes Kommentar von damals sehe ich mit Abstand. Ich freue mich über meine Tischdeko und die Komplimente dazu, und lasse mir durch eine alte Negativität weder den Abend noch die Erinnerung verderben.
Denn: Was wir im Gedächtnis behalten, ist auch ein Stück weit unsere Entscheidung. MF