Selfcare oder Selbstbetrug? – Wenn Achtsamkeit zur Leistungsdisziplin wird
Neulich im Wartezimmer des Hausarztes, 08.15 Uhr, gottseidank sollte ich nur ein Rezept abholen.
Neben mir blättert eine Dame, schätzungsweise Mitte Dreißig, in einer Zeitschrift mit dem Titel "Selfcare für starke Frauen".
Als ihr Name aufgerufen wird, sagt sie strahlend und mit echtem Stolz in der Stimme zur Arzthelferin:
„Ich bin heute schon um 5:00 Uhr aufgestanden, habe meditiert, Journaling gemacht, kalt geduscht und meine 10.000 Schritte fast voll, ich brauche jetzt nur noch das Rezept, dann ist mein Tag komplett.“
Wow.
Ich dagegen hatte mich mit großer Anstrengung aus dem Bett geschält, ein kurzes Frühstück genossen und bin vergleichsweise ziemlich unachtsam in meinen Tag gestolpert.
Aber was mich an der Szene beschäftigte, war nicht etwa Neid auf ihre Disziplin.
Es war eine Frage:
Was kommunizieren wir eigentlich, wenn wir stolz verkünden, wie selbstfürsorglich wir um 5:00 Uhr in den Tag gestartet sind?
Selfcare, also Selbstfürsorge, soll uns ja eigentlich schützen: vor Überlastung, vor Burnout, vor dem Gefühl, nur noch zu funktionieren.
Aber was, wenn sie genau das Gegenteil bewirkt?
Was, wenn aus einer eigentlich wohltuenden Praxis ein neues Pflichtprogramm wird, das uns genauso erschöpft wie das, wovon es uns erholen sollte?
Meditation, Atemübungen, Dankbarkeitstagebuch, Yoga, Clean Eating, Journaling, digitales Fasten, alles gut, keine Frage.
Aber wenn Selfcare zu einer Art neuem Leistungssport wird, dann schwingt da plötzlich ein anderer Ton mit:
„Ich bin achtsamer als du.“
„Ich kontrolliere sogar meine Entspannung.“
„Ich bin produktiv, sogar in meiner Pause.“
Manchmal erinnert das alles weniger an Fürsorge und mehr an Selbstmanagement mit Highscore-System.
Was ursprünglich helfen sollte, den Druck rauszunehmen, wird zur kommunikativen Visitenkarte.
Ich achte auf mich.
Ich bin reflektiert.
Ich bin nicht gestresst, ich plane meine Achtsamkeit!
Da wird „Selfcare“ zur Statusmeldung.
Wer früh meditiert, hat sich im Griff.
Wer abends noch Yoga macht, ist geistig überlegen.
Wer sich selbst optimiert, wird bewundert.
Und wer einfach mal faul ist?
... naja, da schweigt der Feed.
Aber was, wenn man eben nicht um 5:00 Uhr aufsteht und das auch nicht möchte?
Was, wenn man nicht auf 10.000 Schritte kommt und das auch nicht will?
Was, wenn der Tag beginnt mit einem zerknitterten Gesicht und dem Gedanken:
„Heute bitte einfach nur durchhalten.“
Dann kann aus Selfcare schnell ein Gefühl von Versagen werden.
Ein Vergleich. Ein „Nicht-genug“. Und das ist kein Wohlfühlprogramm. Das ist Selbstbetrug.
Wer von seiner Achtsamkeit erzählt, meint oft:
„Ich bin dabei, mein Leben im Griff zu haben.“
Und das ist menschlich.
Denn wir wollen Kontrolle. Struktur.
Das Gefühl, nicht unterzugehen im Chaos.
Aber wehe, man lässt eine Morgenroutine aus.
Dann fühlen sich manche fast schuldig.
Und genau da wird es spannend. Denn wahre Selbstfürsorge ist nicht ritualisiertes Selbstmanagement.
Sondern die Fähigkeit, sich auch mal nicht im Griff zu haben, und trotzdem gut zu sich zu sein.
Konfliktbaustellen-Tipps:
Motiv-Check am Morgen:
Frag dich: Mache ich das jetzt, weil es mir gut tut, oder weil ich es muss?
Selfcare darf Freude machen. Muss aber nicht immer perfekt sein. Und vor allem keinen Stress verursachen.
Vergleichsmodus ausschalten:
Nur weil jemand täglich eiskalt duscht, heißt das nicht, dass du weniger achtsam bist, wenn du im Bademantel Kaffee trinkst.
Unterschiedliche Menschen haben eben unterschiedliche Bedürfnisse.
Sofazeit ist auch Selfcare:
Wenn dein Körper heute Netflix braucht statt Sonnengruß, dann ist das vielleicht genau die Fürsorge, die du brauchst.
Selfcare ist nicht unbedingt Selbstoptimierung:
Du bist kein Projekt. Du bist ein Mensch. Und der darf auch mal Chaos und Müdigkeit ausstrahlen und Heißhunger auf Tiefkühlpizza haben.
Tausche dich aus:
Ein echtes Gespräch mit einem guten Freund, eine ehrliche Frage im Kollegenkreis („Wie geht’s dir wirklich?“) kann oft heilsamer sein als 20 Minuten Atemtechnik.
Selbstfürsorge beginnt nicht mit der App und endet nicht mit dem Meditationskissen.
Sie beginnt mit Ehrlichkeit. Mit dem Mut, zuzugeben:
„Ich bin müde. Ich bin menschlich. Und das ist okay.“
Und vor allem:
Selbstfürsorge darf niemals zum nächsten Druckpunkt werden.
Wenn wir anfangen, uns selbst zu optimieren, um achtsamer zu sein,
wenn das Meditieren zur Pflicht wird, das Journaling zum inneren Soll-Konto,
dann haben wir das Prinzip missverstanden.
Dann wird aus Selfcare plötzlich Selbstüberforderung –
und das ist genau das Gegenteil von dem, was wir eigentlich brauchen.
Selbstfürsorge ist kein Wettbewerb. Kein Ranking.
Kein stiller Vergleich auf Instagram.
Sie ist ein Geschenk an dich selbst.
Vielleicht ist dein achtsamer Moment heute nicht die perfekte Morgenroutine,
sondern einfach ein langes Ausatmen auf dem Balkon.
Ein Spaziergang ohne Schrittzähler.
Oder drei Minuten Musik, die dich spüren lässt: Ich bin da.
Wenn dir nach echter Selfcare ist, ohne To-Do-Liste, ohne Tracker,
dann nimm dir 3 Minuten für
„Sittin’ on the dock of the bay“ von Otis Redding.
Ein Lied wie ein inneres Sofa. Lehne dich zurück.
Atme aus. Und vergiss nicht:
Du bist auch dann genug,
wenn du einfach nur dasitzt und den Möwen beim Leben zusiehst.
Herzlich von der
Konfliktbaustelle, wo toleriert wird, dass jeder seinen eigenen Weg zur Selbstfürsorge finden darf.
MD