Ohne Titel, ohne Etikett – bin ich trotzdem ich?
Neulich las ich diesen Satz:
„Stell dir vor, du dürftest dich jemandem nicht über deinen Beruf, deine Herkunft, deine Religion oder deine Hobbys vorstellen. Wer wärst du dann?“
Klingt tiefgründig. Fast spirituell.
Aber auch ein bisschen arrogant? Und an der Kernfrage: Wer bist Du wirklich? vorbei.
Denn ganz ehrlich: Warum sollte ich all das ausblenden, was mein Leben ausmacht?
Meine Arbeit zum Beispiel. Die erfüllt mich. Ich habe dafür gelernt, mich weiterentwickelt, Krisen gemeistert. Sie prägt mein Denken, meinen Tagesrhythmus, mein Selbstbild.
Oder meine Familie. Ohne sie, ohne die Beziehung zu meinen Kindern, Eltern, Partnern, wäre ich ein anderer Mensch. Und ein ärmerer Mensch.
Viele Menschen finden gerade in diesen Lebensbereichen – Beruf, Familie, Glaube, Hobby, Engagement, Sinn, Verbindung und Identität.
Diese Bereiche sind keine Masken. Sondern Ausdruck von Zugehörigkeit.
Also nochmal: Wer bin ich – wenn ich das alles weglasse?
Ich persönlich wahrscheinlich ein Mensch in Unterhose auf einer Yogamatte, der sich fragt, ob sich das Leben nicht doch irgendwie echter anfühlt mit einem Kaffee in der Hand und einem Termin im Kalender.
Das heißt nicht, dass die Frage nach dem „wahren Ich“ falsch ist.
Nur sollte sie nicht so gestellt werden, als wäre alles Alltägliche nur Fassade.
Manchmal steckt das „wahre Ich“ genau in diesen scheinbar äußeren Dingen.
In der Art, wie ich mit Klienten spreche.
In der Geduld, die ich mit meinen Kindern aufbringe.
In der Leidenschaft, mit der ich alten US-Cars hinterherrecherchiere oder einen Blogartikel schreibe.
Vielleicht ist das wahre Ich nicht das, was übrig bleibt, wenn man alles abzieht.
Sondern das, was sich zeigt, wenn ich voll da bin, nämlich in dem, was ich tue, liebe, glaube.
Konfliktbaustellen-Tipps für mehr Selbsterkenntnis ohne Selbstverleugnung:
1. Reflektiere, aber fair.
Nicht alles hinterfragen heißt naiv sein. Aber alles abwerten, was dich trägt, macht dich heimatlos. Achtsamkeit ja, Identitätskrise nein.
2. Suche nicht nach dem „reinen Selbst“.
Du bist kein Buddha im Vakuum. Du bist geprägt von dem, was du lebst. Und das ist gut so.
3. Werte Lebensbereiche nicht gegeneinander auf.
Familie ist kein Fluch, Beruf keine Maske, Glaube kein Dogma. Sie sind Teile von dir. Und du bestimmst, wie groß ihr Platz ist.
4. Authentizität entsteht im Alltag.
Nicht auf dem Selbstfindungsseminar in der Toskana. Sondern beim Zuhören, Streiten, Verzeihen, Wachsen.
5. Und manchmal hilft ein ganz einfacher Satz:
„Ich bin, wie ich bin. Mit allem Drum und Dran.“
Nicht trotz meiner Rollen. Sondern durch sie.
Vielleicht brauchen wir gar keine komplette Dekonstruktion unserer Identität.
Sondern ein bisschen mehr Wärme im Blick auf uns selbst.
Denn am Ende bin ich nicht nur „der Mensch ohne alles“ –
sondern: Vater. Freund. Ehemann meines Lieblingsmenschen. Kollege. Rechtsanwalt. Autofan. Schreiberling.
Und das darf ruhig auch so bleiben. Oder, wie Frank Sinatra es besungen hat – mit Rückgrat und Gefühl:
Und genau das – darfst auch du.
Herzliche Grüße
von der Konfliktbaustelle,
wo Identität nicht entkernt, sondern gewürdigt wird.
MD
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