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Die Tyrannei des Positiven

Letzte Woche in einem Coachinggespräch. Eine erfahrene Führungskraft, Mitte 40, verantwortet ein großes Team, arbeitet in einem anspruchsvollen sozialen Umfeld. Wir reden über Erschöpfung, über Druck, über das Gefühl, ständig stark sein zu müssen. Sie schaut mich an und sagt: „Ich bin fast daran zerbrochen, dass ich immer positiv bleiben wollte.“ Stille. Dieser Satz hat mich beschäftigt. „Du musst nur positiv denken.“ Diesen Satz haben wir alle schon gehört. Manche sagen ihn zu sich selbst, andere sagen ihn zu anderen, oft in bester Absicht. Doch was als aufbauende Motivation gemeint ist, kann tatsächlich zur emotionalen Falle werden. Wenn alles positiv gedeutet werden muss , bleibt kein Raum mehr für das, was auch da ist, nämlich Angst, Zweifel, Wut, Schmerz, Erschöpfung. Das Ergebnis: Wir funktionieren. Wir lächeln. Wir sagen: „Alles gut.“ Und innerlich? Bauen wir Druck auf. Uns gegenüber, positiv zu sein. Verlieren den Kontakt zu uns selbst. Und irgendwann vielleicht zu and...

Atmen für Anfänger – oder: Der nächste Hype kommt bestimmt!

Neulich, ausnahmsweise, im Bus: Neben mir zwei Teenager im angeregten Gespräch. Sie: „Ich war gestern beim "Atem-Workshop.“ Er: „Krass. Ich auch. Welche Session?“ Sie: „Psychedelic. 60 Minuten. Ohne Substanz. Nur Atmen.“ Er: „Geil. Ich hab so losgelassen – ich war ganz bei mir!“ Ich, zu mir selbst: "Ich war ganz woanders." Und ich frage mich seitdem: Echt jetzt? Müssen wir uns das Atmen beibringen lassen? Willkommen im Jahr 2025! Die Welt ist kompliziert. Verständlich. Aber wenn man uns jetzt schon das Atmen erklärt, und das mit Musik, LED-Stimmungslampe und Anmeldeformular, dann sind wir endgültig im Zeitalter der Selbstoptimierung durch Schnappatmung angekommen. Die Menschheit hat es doch bisher erstaunlich gut hinbekommen: Atmen: gratis, spontan, rhythmisch. Mal flach, mal tief, mal angestrengt, mal wohlig. Und immer zur richtigen Zeit. Vollautomatisch. Brauchen wir da wirklich geführte Online-Sessions mit Event-Countdown? Was steckt dahinter? Psychologisch betra...

Was kommuniziere ich, wenn ich einfach mal nichts sage? Von der Kunst, Stille sprechen zu lassen.

Sie saßen nebeneinander auf der kleinen Holzbank vor dem Grab. Vater und Tochter. Er mit wettergegerbtem Gesicht, die Hände gefaltet, die Mütze auf dem Knie. Sie mit geröteten Augen und einer Thermoskanne, aus der sie zwei kleine Becher Tee einschenkte. Sie sprachen nicht. Kein Wort über die Beerdigung. Kein Wort über die Mutter. Kein „Wie geht es dir?“ Nur der Tee, das leise Gluckern beim Eingießen, ein kurzes Nicken. Als sie aufstand, strich sie ihm kurz über den Rücken. Er sagte: „Danke.“ Das war alles. Und doch war alles gesagt. Stille ist keine Leerstelle in der Kommunikation, sie ist eine aktive Form des Ausdrucks. Wer schweigt, sagt nicht zwingend nichts. Schweigen kann Anteilnahme ausdrücken, ohne Worte zu bemühen, die doch nicht reichen würden. Schweigen kann Abgrenzung signalisieren, wo Worte nichts bewirken würden. Schweigen kann Raum geben, damit Gefühle sich sortieren können. Schweigen kann Druck nehmen, wo Gespräche zu viel verlangen. In einer Welt, in der ständige Rea...

"Sitz! Platz! Aus!" Kommunikationsmuster mit tierischen Weggefährten.

Was die Wahl unseres Haustieres über uns verrät: Samstag im Stadtpark. Ein Mann in Designerjacke läuft mit einem perfekt frisierten Großpudel an der Leine. Gekonnt bewegt sich das Duo im Gleichschritt, als würde Karl Lagerfelds Geist mitjoggen. Ein paar Meter weiter kommt ein Typ mit Jogginghose, Undercut und zerkauter Hundeleine um den Hals, geführt von einem breitschultrigen, sabbernden American Bully. Die beiden Männer begegnen sich, nicken sich freundlich-distanziert zu, sagen aber nichts. Der Pudelmann schaut auf den Bully. Der Bullymann auf den Pudel. Und beide denken vermutlich das Gleiche: „Typisch.“ Was sagt unser Haustier über uns aus? Mehr als wir glauben. Denn die Wahl unseres tierischen Begleiters ist nicht nur eine Frage des Fells oder der Futtergewohnheiten, sie ist Kommunikation in Reinform. Wir projizieren, spiegeln, kompensieren oder unterstreichen durch unsere Tiere Eigenschaften, die wir: an uns selbst mögen, gern hätten, oder die wir im Alltag zu w...

„Was klebst du dir da eigentlich auf die Karre?“

Was wir wirklich sagen, wenn wir Aufkleber auf Auto, Helm oder Fahrrad anbringen Vorhin an der Ampel: Ein kleiner, zerkratzter Polo mit mattem Lack vor mir. Hinten drauf ein wilder Mix aus Weltanschauung und Freizeitverhalten: „Atomkraft? Nein danke“ neben „Lieber nackt als Pelz“, darunter ein „Ein Herz für Kinder“, eingerahmt von „Waldorfschule“ und „Ich war auf dem Watzmann“. Dazwischen schielt ein Aufkleber: „Ich bremse auch für Dich.“ Ich fahre rechts vorbei, neugierig geworden. Am Steuer sitzt ein älterer Herr mit Basecap, Nickelbrille, und einem Papagei auf dem Beifahrersitz. Kein Scherz. Er sieht mich, nickt, grinst. Ich nicke zurück. Ich weiß nicht, wie er heißt, was er beruflich macht oder welche Musik er hört. Aber irgendwie… weiß ich doch eine ganze Menge. Was kommunizieren wir mit Aufklebern? Aufkleber sind Mini-Botschaften. Sie kleben an Dingen, aber sprechen für Menschen. Ob Auto, Lastenrad, Helm oder Gitarrenkoffer: Wer etwas sichtbar anklebt, der möchte gesehen, ge...

"Bin ganz bei dir – warte kurz, nur noch diese Nachricht ..."

Was wir wirklich kommunizieren, wenn wir im Gespräch ständig aufs Handy schauen: Samstag beim Lieblings-Italiener. Ein junges Paar sitzt am Nebentisch. Der Kellner bringt die Pizza. Sie sagt: „Danke, sieht super aus.“ Er nickt, aber schaut auf sein Handy. Sie beginnt zu essen. Er tippt noch. Sie: „Ich wollte dir was erzählen.“ Er: „Mhm. Warte. Nur kurz. Der Kollege hat was in die Gruppe geschrieben.“ Sie schiebt die Pizza beiseite. Er lacht auf. Aber nicht über ihren Witz. Das Gespräch ist zu Ende, bevor es begonnen hat. Und die Pizza? Wird kalt. Wie das Gesprächsklima. Was passiert da eigentlich? Ständiges auf-das-Handy-Schauen in einem Gespräch ist mehr als eine schlechte Angewohnheit, es ist eine körperliche Botschaft. Eine Kommunikation über den eigenen Körper, die sagt: "Ich bin nicht ganz da." "Du bist gerade nicht meine erste Priorität." "Etwas anderes ist spannender als du." Natürlich ist das selten böse gemeint. Die digitale Welt ...

"Ich will ja nichts sagen, aber …" – Was steckt dahinter?

Neulich auf einem Familiengeburtstag, Namen der beteiligten Personen geändert, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. Kaffee, Kuchen, Kerzen, und der übliche Wahnsinn. Lisa wird heute 17. Neues Kleid, neues Haarstyling, 1 Stunde Schminken. Tante Ruth beugt sich zu ihrer Nichte vor und sagt, mit dem Blick auf deren neue Frisur: „Ich will ja nichts sagen, aber mit Pony sieht man halt schnell kindlich aus.“ Stille. Lisa lächelt gezwungen. Der Onkel fragt, ob noch Käsekuchen da ist. Später wird Lisa sagen: „Warum muss sie das immer machen? Tut so, als wär es harmlos – und dann trifft es ins Herz.“ Was steckt hinter „Ich will ja nichts sagen, aber …“? Dieser Satz gehört zur Familie der verkleideten Kommentare. Er klingt wie ein Rückzieher – ist aber oft ein Vorbote eines verbalen Nadelstichs. Was folgt, ist fast nie neutral, sondern: eine verdeckte Kritik, eine Belehrung mit Sicherheitsabstand, oder ein Kommentar mit eingebautem Fallschirm: „Falls du dich a...